Nikolaj ("Nikola") Diligenskij
Über Schicksal, Diagnose und ersten Besuch Nikolas haben wir bereits im vorigen Rundbrief berichtet, deshalb soll im Folgenden hauptsächlich von seinem zweiten Aufenthalt die Rede sein. Das erste mal wurde Nikola von seiner Betreuerin ("Amme") begleitet, was zur Folge hatte, daß Tagesablauf und soziale Beziehungen mehr oder weniger nach seinen moskauer Gewonheiten aufgebaut waren. Dieses Mal jedoch hatte Mitja einen strengen Tagesplan ausgearbeitet: Frühes Aufstehen, Frühstück, arbeiten bis zum Mittagessen, Mittagspause, erneutes Arbeiten und abends Unterhalten mittels Computer und Spazierengehen. Zeit seines Lebens hat Nikola keine derart straffe Tagesordnung gehabt, außerdem hat ihn Mitja ständig begleitet und ihm über die Schulter gesehen - geduldig und aufmerksam, ohne ihm jedoch die üblichen Abscheifungen zu gestatten. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Im Laufe der zweiten Woche begann Nikola zu reden, obwohl er das Sprechen kurz vor seinem achten Geburtstag aufgegeben hat. Solcherlei ist auch vorher schon vorgekommen, allerdings nur in Form undeutlichen Plapperns oder Murmelns, üblicherweise als Echo, als Wiederholung des vorher zu ihm Gesagten. Hier jedoch begann Nikola sich deutlich und der Situation gemäß zu äußern: Nikola wird von Mitja um sieben Uhr morgens den Nachttopf (bitte um Verzeihung für die Einzelheiten) leeren geschickt, er irrt mit dem Eimer im Makarowskij-Haus umher und plötzlich hören alle Anwesenden laut und deutlich: "So ein Schafskopf!". Zur wesentlich öfter vernehmbaren Anrede wurde hingegen: "Mein Lieber, mein Lieber!".
Mitjas Hauptaufgabe bestand darin, Nikola beizubringen, eine Arbeit, und sei sie auch noch so unbedeutend, selbstständig zu bewältigen; im Idealfall gar Eigeninitiative zu entwickeln. Ersteres ist im vollen Maße gelungen.
Ein weiteres Problem waren (und sind) seine schlechten Gewohnheiten und vollständige Lebensunzulänglichkeit, verstärkt durch ungewohnte Umgebung und unbekannte Menschen. Hier sind ebenfalls ernsthafte Erfolge erzielt worden: Nikola hat seinen Zigarettenkonsum (er kaut sie) von einer halben Pakung täglich auf drei Zigaretten reduziert, er hörte auf nach Essen zu langen und es aus den verschiedensten Schränken zu holen, er gab es auf, während der Mahlzeiten aufzuspringen und umherzuwandern, und desweiteren mehr, worunter sich auch einige intime Angewohnheiten.
Im Moment suchen wir einen Menschen, der regelmäßig und für längere Zeit Nikola in Monino aufnimmt.
Andrjuscha
Andrjuscha ist zehn Jahre alt und lebt in einem moskauer Kinderheim, einem Internat für geistig unterentwickelte Kinder. Er leidet an Kindslähmung, infolgedessen kann er schlecht laufen, seine Grob- und Feinmotorik sind schwach entwickelt, aufgrund paralysierter Sprachorgane redet er nicht, er kann schlecht kauen und schlucken und der Speichel rinnt ihm ununterbrochen aus dem Mund. Die Mutter hat ihn im Alter von neun Monaten ins Internat gegeben, wo er in die Abteilung für Nichtgehende gelangt ist, d.h.für solche, denen das Gehen nach Diagnose nicht in die Wiege gelegt ist. Die Kinder, die wie Andrjuscha gelernt haben aufzustehen und laufen wollten, sind mit Strumpfhosen ans Bett gebunden worden. Es wurde aus Flaschen gegessen, zumal ein selbstständiges Aufnehmen von Nahrung laut Diagnose nicht vorgesehen war. Im Internat fand ihn die Großmutter, eine entfernte Verwandte - Frau des Onkels der Mutter Andrjuschas - die ihn fortan besuchte, ihn im Alter von vier Jahren das Gehen und das Essen vom Löffel lehrte. Sie redete viel mit ihm, so daß er jetzt das zu ihm Gesprochene versteht und darauf mit einfachen Zeichen und bestimmten Lauten Antworten kann. Als er fünf war, erreichte die Großmutter eine Verlegung in die Abteilung für Gehende. Seit einem Jahr bringt sie ihn dreimal in der Woche in das heilpädagogische Zentrum "Turmalin". Seine Mutter besucht er nicht, da dort ein großer Hund residiert und Anrjuscha Hunde und Katzen fürchtet.
Andrjuscha haben wir in Monino ohne Entgelt aufgenommen, seinen Unterhalt aus eigener Kasse bestritten. Er wohnte bei Olga und Mischa und ging zu Mascha in den Kindergarten. Nach einigen Tagen gelang es ihm seine Angst vor Tieren zu überwinden, er fütterte und spielte mit dem Hund, ritt zu Pferde und streichelte die Katze. Andrjuscha hat mit Vergnügen seine häuslichen Aufgaben erfüllt: Tischdecken und -abräumen, Holz stapeln, Hof aufräumen, mit Mischa zur Quelle gehen. Abends lernte er kleine Apfelstücke kauen, Kerzen auspusten, Wasser in kleinen Schlucken trinken und einzelne Silben Aussprechen.
Ob wir Andrjuscha weiterhin in Monino aufnehmen werden, haben wir noch nicht entschieden, da wir nicht davon überzeugt sind, daß diese kurzfristigen Aufenthalte für ihn gut sind. Er braucht eine Familie die ihn auf Dauer aufnimmt, dies können wir bisher jedoch nicht leisten.
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