4.2. Konkrete inhaltliche Vorbereitung
Bei der Vorbereitung handelte es sich um eine einerseits informative, andererseits affektive Einstimmung auf die bevorstehende Fahrt, mit dem Zweck, eine positive Erwartungshaltung bei den SchülerInnen zu schaffen.
So ließ ich die SchülerInnen bei einem der Vorbereitungstreffen "lockere" Fragebögen ausfüllen mit folgenden Fragen:
- Was ist deine erste Assoziation, wenn Du an Russland denkst?
- Was erhoffst Du Dir von dieser Reise?
- Worüber würdest Du dich besonders freuen?
- Was fändst Du nicht so schön/ was bereitet dir eher Sorgen/ wovor hast du ein wenig Angst?
Sie antworteten auf die erste Frage etwa mit: "Vodka, Mafia, Kalaschnikow" etc., auf die zweite mit: "Russland kennen lernen, andere Jugendliche kennen lernen, die Sprache verbessern, Spaß haben, das Kinderdorf kennen lernen" etc., auf die dritte Frage kamen etwa folgende Antworten: "wenn ich hinterher in Russisch eine Eins hätte, russische Jugendliche kennen zu lernen, wenn wir im See baden gehen können und das Wetter gut ist" etc. und zur vierten Frage kamen Antworten wie: "dass ich nicht genug Russisch kann, ich mich nicht verständigen kann, dass das Wetter schlecht ist".
Mit der Fragebogenaktion wollte ich nur einen ersten Eindruck bekommen darüber, 'wo die SchülerInnen' stehen, was ihre Erwartungen und evtl. ängste sind.
Die Antworten fielen nicht sehr überraschend aus: die erste Assoziation zu "Russland" ist wahrscheinlich bei den meisten Menschen auf der Welt "Vodka, Mafia, Kalaschnikow". Wenn man so allgemein und pauschal fragt, erhält man auch solche klischeehaften Antworten. Ich denke, dass sich hier bestätigt, dass man Vorwissen, Voreinstellungen, emotionale Assoziationen etc. zu Vertretern einer bestimmten Kultur schlecht so punktuell abfragen kann und dass sich derartige "Vorurteile" (oder Vorstellungen, Bilder) nur schwer anhand einer Klassenfahrt widerlegen oder revidieren lassen, da sie pauschalisiert sind.
Schon bei dieser Fragebogenaktion wurde mir klar, dass man das, was ich mit so einer Klassenfahrt bezwecken möchte, nämlich interkulturelles Lernen bzw. erste Schritte zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz, nicht anhand von Fragebögen abfragen kann. Es handelt sich bei diesem Ziel, wie bereits dargestellt, um persönlichkeitsverändernde Schritte, mindestens um eine Horizonterweiterung, die schwer nachzuweisen ist.
Bei einem weiteren Treffen zeigte ich den RusslandfahrerInnen mein persönliches Fotoalbum von den letzten zehn Jahren meiner Russlandfahrten. Bei dem Treffen war eine Freundin von mir, Katja, aus Moskau dabei, die häufig den Sommer in Monino verbringt und zu dem großen Freundeskreis um das Kinderdorfprojekt in Moskau gehört. Sie ist auf vielen meiner Fotos zu sehen. Bei dem Treffen saßen die SchülerInnen und ich in einem kleinen Stuhlkreis und sahen uns die Fotos gemeinsam an und Katja und ich erzählten Hintergründe zu den einzelnen Fotos. Katja erzählte auf Russisch, die beiden Muttersprachlerinnen oder ich übersetzten auf Deutsch. Teilweise sprachen die Muttersprachlerinnen auch mit Katja direkt auf Russisch. Das Treffen war sehr persönlich und durch die Anwesenheit von Katja besonders authentisch.
Eine weitere vorbereitenden Maßnahme, die der affektiven Einstimmung diente, war das gemeinsame szenische Lesen und Darstellen einzelner Szenen eines russischen Theaterstücks, "сюрприз" ("Überraschung"). Dabei geht es um einen deutschen Studenten, Hans, der als überraschungsgast nach Moskau fliegt und bei fremden Leuten einfach vor der Tür steht. Wegen der berühmten russischen Gastfreundschaft, 'muss' das russische Ehepaar Hans natürlich aufnehmen. Später macht er noch die Bekanntschaft des Sohnes und seiner Freunde und feiert mit ihnen im Studentenheim (mit Bier und dem obligatorischen Vodka). [39] Von der Suche nach dem Taxistand auf dem Flughafen bis zur richtigen Wohnungstür im Hochhaus passieren Hans einige 'interkulturelle Situationen', d.h. Situationen, in denen interkulturelle Unterschiede vorliegen, die für Hans ungewohnt sind oder die zu Missverständnissen führen. [ 40]
In dem Theaterstück sind einige charakteristische russisch - deutsche Unterschiede, wie ich finde, sehr gelungen verarbeitet, denen man sich so auf spielerische Weise nähern kann. Abgesehen vom szenischen Lesen, haben die SchülerInnen die Szene des Klingelns an der Wohnungstür abgewandelt und in drei Gruppen eigene Szenen geschrieben und vorgespielt, die sehr originell und lustig waren. Sie hatten augenscheinlich sehr viel Spaß beim Erarbeiten und Darstellen.
In der Klassenarbeit wurde neben dem Resume des Theaterstücks auch eine kleine Reflexion verlangt über die Szene im Taxi. Sie SchülerInnen sollten (auf Russisch) versuchen, die Unterschiede zwischen russischen und deutschen Vätern zu erklären in Bezug darauf, ob ein Auto geschenkt oder selbst verdient werden sollte. Da die inhaltliche Anforderung relativ hoch war für die eher geringeren Russischkenntnisse der meisten SchülerInnen, fielen die Antworten sehr knapp aus. Interessant war allerdings, dass ich einen Unterschied in den Antworten der Muttersprachlerinnen zu den anderen SchülerInnen ablesen konnte. Sie betonten nämlich, dass russische Väter so ihre Großzügigkeit zeigen. Die ausschließlich deutsch sozialisierten SchülerInnen hingegen hoben das pädagogische Moment hervor, nämlich dass deutsche Väter ihre Söhne (und Töchter) so zu mehr Selbständigkeit erziehen wollen.
Beim Lesen und Spielen der einzelnen Szenen schlossen sich manchmal Fragen seitens der SchülerInnen und Erklärungen meinerseits an über Unterschiede in Russland und Deutschland. Ein direkter Bezug zu unserer Fahrt wurde nicht hergestellt, da es sich bei der Fahrt nicht um einen Schüleraustausch mit Aufenthalt in einer Gastfamilie handelte. Eine weiterreichende Reflexion auf der Metaeben über interkulturelle Unterschiede zwischen Russland und Deutschland wurde von mir an dieser Stelle nicht angestrebt, weil ich Sorge hatte vor zu festen Zuschreibungen wie: "die Russen sind so und so, die Deutschen hingegen so und so", da sie meiner Meinung nach zu leicht zu klischeehaften Vorstellungen führen. Außerdem fürchtete ich eine zu starke 'Theoretisierung', bevor die SchülerInnen jemals selbst in Russland gewesen waren und gewusst hätten, wovon ich spreche. Ich wollte, dass sie erst ihren eigenen, möglichst 'natürlichen' Eindruck gewännen, um dann anhand von konkreten Erlbenissen zu reflektieren.
Hierbei handelte es sich eher um einen 'vorbewussten Ansatz'; die SchülerInnen haben sich quasi halb bewusst, halb unbewusst in die Thematik "interkulturelle Missverständnisse" eingeübt.
Eine weitere Vorbereitung, die gezielt der interkulturellen Reflexion dienen sollte, war die Beschäftigung mit zwei Schülerinnenberichten über einen russisch-deutschen Schüleraustausch. [41] Die deutsche Schülerin Nicole und die russische Schülerin Tanja berichten jeweils von ihren Erfahrungen während des Auslandsaufenthaltes. Zur Verdeutlichung sollen hier jeweils einige Sätze aus den Berichten wiedergegeben werden (übersetzung des russischen Berichtes von mir):
Nicole
Tanja ist eingebildet, verwöhnt und desinteressiert. Bei Tisch hat sie kaum was gegessen von dem, was wir angeboten haben. /.../ Anschließend hat sie zugeguckt, wie ich abgeräumt und gespült habe, statt mir zu helfen. Auf unsere Vorschläge für morgen (Zoo oder Museum) hat sie nicht reagiert. Ich scheint alles egal zu sein. Wenn ich bedenke, was wir in Russland für ein langweiliges Pflichtprogramm vorgesetzt bekommen haben! /.../
Таня
Николь совершенно не старается, хотя я у нее в гостях. Вместо того, чтобы ать мне что-нибудь поесть, она меня только спрашивает, что я хочу - откуда же я знаю, что мне понравиться? /:/ Потом целый час я сидела и смотрела, как она моет посуду. Наверное завтра мы никуда не поедем, потому что они ждут от меня, что я им сама предложу куда-нибудь поехать, а мы ведь в России организовали для них отличную культурную программу. /:/
Nicole gibt sich überhaupt keine Mühe, obwohl ich bei ihr zu Gast bin. Anstatt mir irgendetwas zu essen zu geben, fragt sie mich immer nur, was ich denn essen möchte, woher soll ich denn wissen, was mir schmeckt? /.../ Danach musste ich dann eine ganze Stunde lang zusehen, wie sie abwäscht. Morgen fahren wir wahrscheinlich nirgendwo hin, weil die hier von mir erwarten, dass ich selber vorschlage wohin, dabei haben wir ihnen in Russland doch so ein interessantes Kulturprogramm organisiert. /.../
Bei diesem Vorbereitungstreffen handelte es sich um einen Termin außerhalb der Unterrichtszeit, bei dem ich eine lockere Gesprächsatmosphäre bewirken wollte. Die SchülerInnen haben die Gegenüberstellung der (laut Autor) authentischen äußerungen gelesen und die Muttersprachlerinnen haben bei der übersetzung des russischen Berichtes geholfen. Danach sind wir tatsächlich 'locker' ins Gespräch gekommen, indem die SchülerInnen - durch das inhaltliche Niveau bedingt leider fast ausschließlich auf Deutsch - sofort ihre Reaktionen zu den gegensätzlichen Darstellungen äußerten. Besonders eine Schülerin, Inka, ein tatkräftiges, begabtes Mädchen, das sich immer gerne und rege am Unterricht beteiligt und manchmal auch fast vorlaut wirkt, bot mir ein gutes Stichwort, um eine 'interkulturelle Reflexion' anzuknüpfen. Sie sagte nämlich: "Also, die Tanja da, ist ja wirklich'n bisschen unselbstständig, oder?! Wenn die noch nicht mal weiß, was sie will!" Auf meine Aufforderung hin, doch noch mal darüber nachzudenken, womit es zusammenhängen könnte, dass Tanja auf sie 'unselbstständig' wirke, kam Inka buchstäblich ins Stottern. Im gemeinsamen Gespräch, durch Vermutungen der Muttersprachlerinnen und Erklärungen von mir, haben wir herausgearbeitet, dass dahinter unterschiedliche Handlungsweisen stehen: in Russland ist es üblich, für einen Gast alles zu machen, so abzuwaschen, dass er es am besten gar nicht mitbekommt, Programmpunkte werden eher 'vorgelegt' und Speisen werden ohne Nachfrage großzügig aufgefüllt, was aus deutscher Perspektive leicht als aufdringlich empfunden werden kann. In Deutschland hingegen hält man es für 'demokratischer', wenn man verschiedene Möglichkeiten anbietet und zur Wahl lässt, was aus russischer Perspektive leicht als zurückhaltend, unsicher bzw. halbherzig interpretiert werden kann. In Deutschland ist es üblich, dass ein Gast beim Abräumen und Abspülen hilft, in Russland darf das ein Gast auf keinen Fall.
Dieses 'lockere' ca. halbstündige Gespräch mit den SchülerInnen ist, besonders durch Inkas Einwurf, meines Erachtens 'geglückt': erste Ansätze zu einer interkulturellen Reflexion haben hier stattgefunden. Auf meine Frage hin, wie man denn solchen interkulturellen Missverständnissen entgegenwirken könne, sagten mehrere SchülerInnen, dass man darüber eben ins Gespräch kommen müsse, dass man versuchen müsse, solche Punkte zu erkennen und zu klären. Das war ein gutes Ergebnis dieser ersten Reflexion.
Bei der konkreten Programmplanung für Moskau wurden die SchülerInnen einbezogen: sie sollten jeweils auf Zettel schreiben, was sie in Moskau gerne machen würden. Einige nannten Sehenswürdigkeiten, vor allem den Kreml und Roten Platz, viele schrieben aber auch, dass sie kein "durchgeplantes, straffes Programm", "nicht die ganzen Kirchen ablatschen" und "nicht den ganzen Tag in Museen gehen" wollten, dass sie "einen allgemeinen Stadteindruck" und "selbstständige Erforschung Moskaus" und "abends ausgehen, Bars, Discos" wollten. Diese Wünsche trafen sich gut mit meinen Vorstellungen und bestärkten mich in meiner Planung mit der Stadtrallye mit den russischen Jugendlichen, dem Kneipenbesuch und den größeren Freiräumen zur eigenständigen Gestaltung.
Zur Dokumentation der Reise wurde ein gemeinsames Reisetagebuch verabredet und fast alle SchülerInnen wollten Fotoapparate mitnehmen, ein Schüler, Julian, sogar eine Videokamera.
5. DARSTELLUNG UND ANALYSE
5.1. Tabellarischer überblick der durchgeführten Reise