Lubutka Rundbriefe

Hamburg, 1. August 2001
Rundbrief N. 34

Liebe Freunde!

Nun ist Projekt Lubutka schon 12 Jahre alt.

Am 24 März hatten wir die Jahresversammlung Lubutka - Hilfe e.V. gehabt. Unter anderem müssten wir den Vorschlag Lubutka - Hilfe aufzulösen diskutieren. Denn einige von uns haben nach der letzten Entwicklungen in Monino Zweifel bekommen, ob unsere Unterstützung der Menschen in Monino noch sinnvoll und mit der Satzungszielen unseres Vereines zu vereinbaren ist.

Die Postpionierphase der Entwicklung des Projektes Lubutka ist in der sozialen Hinsicht eher bescheiden ausgehfahlen. Wir müssen feststellen, dass die ganze menschliche Wärme, die jeden an diesem Ort immer so positiv überrascht, mitgerissen und inspiriert hat, hat den Moninobewohner nicht geholfen in dem Prozess des sozialen Werdens zwischen Individualisierung und Gemeinschaftsimpulsentwicklung die goldene Mitte zu finden.

Nun ist Lubutka, wie es Dieter Hornemann, Christengemeinschaftspriester aus Stuttgart, der gut Monino durch die internationale Jugendtagungen der Christengemeinschaft, die er da organisiert hat, kennt, positiv ausgedrückt hat "zu einer gesunden Grosse geschrumpft". Wie Sie schon aus unseren letzten Brief erfahren haben, vor Allem wegen sozialen Differenzen haben Ariadna im Herbst und dann Geyers im Winter Monino verlassen. Und jetzt von den vollverantwortlichen Bewohner sind da nur Familie von Mascha und Wlad, die allein durch zwei eigene Kleinkinder schon ziemlich belastet ist, so wie die kranke Aljona geblieben.

Richtig bewundernswert finde ich ihr Mut weiter zu machen. Man muss sich das immer wieder richtig bildlich vorstellen können, Monino ist im gewissen Sinne ein richtiges Insel mitten in der Wildnis, weit weg von der wirklichen Zivilisation. Man fühlt sich da von dem sonstigen sozialen und kulturellen Weltgeschehen richtig abgeschlossen. Und ohne jegliche Aufbauarbeit und Betreuung ist man da vom dem urigen Alltag, der zum Teil mit den Arbeiten verbunden ist, die wir hier seit einem Jahrhundert oder mehr nicht kennen, erfühlt und häufig auch durchaus ausgelastet, vor allem im Winter...

Auf der Versammlung im März müssten wir uns selber gegenüber einräumen, dass wir momentan keine weitere maßstabvolle Entwicklung in Monino erwarten können und manche Umstände eher als wenig unterstützungswürdige betrachten müssen. Jedoch schien uns viel wichtiger die Tatsache im Auge zu behalten, dass Monino bei recht harten und häufig widerstrebende Umständen, nach wie vor einem ernsthaften Anzahl von Jugendlichen und werdenden Erwachsenen, eine Hülle, ein Zuhause, eine Existenz- und Entwicklungs-Möglichkeiten bittet. Und wenn wir aus unserem deutschen Blickwinkel manches im Lubutkasalltag bemängeln oder gar als trauriges Scheitern beschreiben würden, können wir nicht sie nicht bewundern, ihre kleine und große Erfolge nicht anerkennen. Noch weniger können wir uns vorstellen sich aus der Mitverantwortung zu ziehen und diesen mutigen, wenn auch nicht immer erfolgreichen, Menschen, ihren Schützlingen und "Mitläufern" in der Zukunft unsere finanzielle Unterstützung (eine Hilfe, die für sie so gut wie fast die ganze Lebensgrundlage bedeutet) zu verweigern, aus dem Grund, dass nur ein Teil der großen Projekten sich verwirklichen ließ. Der Ort - Monino hat nach wie vor eine sehr wichtige Funktion. Und jeder der russischen Alltag kennt, weiß was es für ein Segen für die Betreute und "Mittleufäher" ist, dass sie so ein Schützoase haben.

Moninobewohner und wir hoffen auch auf Ihre weitere Unterstützung. Die Umstände in Monino sind doch ziemlich komplex, so wollen Moninoer Ihnen eine Gelegenheit bitten, selber die schönen und die problematischen Seiten des Lubutkasdasein selber zu erleben und laden Sie zum gemeinsamen Silvester- und russische Weihnachtenfeiern nach Monino ein.

Außerdem haben wir gedacht, dass es vielleicht schön sein kann dieses Mal größere Abschnitten aus den Briefen und Rechenschaftsberichten in diesen Rundbrief mitrein zu nehmen, besonders unter der Betracht der Tatsache, dass dieser Rundbrief länger auf sich warten ließ. So können Sie sich möglichst vielseitigen Bild von dem Alltag, manchen Ereignissen, so wie authentische Betrachtungsweise der Moninobewohner verschaffen.

Mit freundlichen Grüssen Arseni.

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Liebe Spender,

Nach einer Zeit, in der Ihr Kontakt zu Monino fast ausschließlich über die Lubutka-Hilfe erfolgte, haben die Menschen aus Monino die Idee gehabt, einmal direkt mit Ihnen in Kontakt zu treten, indem sie Sie zu sich einladen und Ihnen die Möglichkeit geben, selbst zu erfahren und zu sehen, worum es in Monino geht.

Die überlegung ist, in der orthodoxen Vorweihnachtszeit (1. - 7. Januar 2002) ein kleines Seminar miteinander durchzuführen. Die Menschen dort halten es im Moment für wichtig, gemeinsam etwas zu tun, anstatt immer nur über die Probleme zu reden. Als Thema schlagen sie deshalb vor, an folgenden Fragen zu arbeiten: Was ist eine Gemeinschaft? Wie entwickelt sie sich? Wie verhält es sich mit Gemeinschaften in der Welt? Für die Seminarleitung hat sich Sergej Miljutin bereit erklärt. Sergej Miljutin arbeitet am Waldorferzieherseminar in Moskau.

Diese Einladung schreibe ich im Auftrag von Mischa Starostin. Bei Interesse und Fragen melden Sie sich bitte bei Sternia Böttcher, Schützenstr. 24, 48143 Münster
Tel.: 0251 / 48 28 816

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Als Mascha und Vlad im Winter zur Geburt ihres zweiten Sohnes Matwej in Moskau waren, hat Boris eine Zeit (Februar) in Monino eingehütet. Da man draußen nicht arbeiten konnte und Marina sich um den Haushalt gekümmert hat, konnte Boris seine Beobachtungen niederschreiben. Hier einige Ausschnitte:

Gestern nach "five o'clock" machten wir Mathematik. Marina hat schon früher unter 10 im Kopf addieren gelernt, bis zur 100 schriftlich.
Die erste Aufgabe machen wir ganz konservativ:
"3 + 2 = ?"
"5"
Na ja, da kennt sie sich aus. Ich möchte aber, dass wir allmählich zum Gespräch kommen:
"Was habe ich gerade gefragt?" - Sie schweigt, mit zartem, beschämtem Lächeln. Ich bin alt und sklerotisch:
"Habe ich gerade "drei" gesagt - plus ...?
Nach einem Schweigen vermutet sie: "Plus zwei?"
"Toll, und was hast du geantwortet?"
Sie schweigt.
"Hast du fünf geantwortet?"
"Vielleicht."
"Kannst du das Ganze wiederholen?"
Schweigen. Ich vermute, sie ist angespannt - das ist die erste Stunde zwischen mir und ihr. Lass uns die Aufgaben mehr irdisch machen.
"Du hast 2 Liter Milch an Aljona gegeben, 2 Liter für uns gelassen. Zeig mir zwei mal zwei Finger. So. Wie viel Liter hattest du am Anfang?"
Sie zählt im Kopf. Die Finger sind nur da. Die Zahl bleibt ein rein geistiges Ereignis. Wie viel Freude hat sie noch vor sich, zu entdecken, dass man mit diesen Fingern rechnen könnte. Marina ist unsere Pflegebedürftige, zur Zeit ist sie aber auch Pflegerin. Wir wohnen hier zu dritt mit Kirill, den sie ernähren (mich auch), dem sie die Pelzstiefel und sonstiges nach der Arbeit im Schnee auf die Ofenbank stellen (für mich macht sie das einfach aus Gewohnheit mit) und für den sie sonst auch alles machen soll, was er nicht kann (für mich nicht). Kirill sitzt mit uns am Tisch voll Konzentration, obwohl er nicht sprechen und hören kann; er sieht auch wenig. Besser wir nehmen etwas mehr Robustes als ein bloßes Gespräch. Marina legt 20 Teelöffel auf den Tisch, schwer und glänzend. Wir beschäftigen uns eine Weile mit einer tragischen Geschichte der Ratten, die vom Kartoffelhaufen 6 Stück angebissen haben, 11 sind aber heil geblieben. Ein ewiges Schweigen.
"Sag' mal ungefähr. Ist es ein Eimer insgesamt? Ein halber Eimer? Eine Handvoll?"
"25 ?"
Wir müssen ganz bestimmt Mengen kennenlernen, nicht Zahlen. Wir möchten heute keine Mathematiker werden, sie muss erst ihren gesunden Menschenverstand aktivieren, um nach dem Sinn handeln zu können. Ich bin auch kein Heilpädagoge, ich hoffe nur, dass unser Verstand uns nicht verlässt, solange wir noch auf dem Boden stehen bleiben. Wir lassen nacheinander Löffel auf den Tisch fallen, haufenweise:
Sind das jetzt 5 da? Oder 15? Oder 150?
Wir dürfen nicht mehr zählen - nur blitzschnell schätzen. Für Marina, die in einer Lebensgefahr mein Leben zu retten viel mehr Chancen hätte, als ich ihres, scheint ein bewusster Versuch, schnell zu beurteilen, ganz unmöglich zu sein.
Da kommt gerade Edik, um uns zu helfen. Er ist viel selbständiger als Marinka, und darf schon in einem eigenen Häuschen allein wohnen. Gut, er kommt und sagt ohne Zweifel: "17". Wir zählen neugierig: Er hat Recht. Jetzt wird der "Löffelwürfel" immer wieder geworfen, Edik sagt sofort sein Urteil; Marina findet eine Taktik, jedes Mal eins mehr als er zu meinen, ich sage auch was. Edik schätzt immer richtig! Nach 20 Malen ist uns klar, dass wir kompliziertere Regeln nehmen müssen. Wir arrangieren es so, dass man die Löffel nur im Fallen sieht, aber nicht danach im Liegen; oder man hört sie blind im Fallen; man tastet schnell blind ab; man tastet unter dem Tuch... Edik gewinnt immer. Es ist eine Entdeckung, seine Begabung: für ihn auch. Dann rechnen wir im Kopf: unter 100 rechnet er ziemlich schnell - aber es lohnt sich, weiter zu üben. Wir verabreden für morgen: jeder muss ein paar neue Aufgabenarten erfinden. Marina macht Abwasch. Kirill kriegt alle wundervollen Löffel zu sich. Lange tastet er sie ab. Plötzlich wagt er etwas Unerwartetes: er legt sie in eine Reihe vor sich und drückt gegen jeden Löffel mit einem entsprechenden Finger. Dann zeigt er uns, wie viele Finger er betätigt hat - eine automatische, irgendwann gut gelernte Geste. Das ist für mich eine überraschung, eine ziemlich böse überraschung, weil wir solche Kenntnisse nicht brach liegen lassen dürfen. Edik ist noch betroffener, als da, wo er entdeckte, dass ich bis 10 000 addieren kann. Nur Marina behält ihre Ruhe: Er sei ihr Pflegekind, er kann einfach nicht ohne Begabung sein!

Als Kirill in der Malstunde automatisch seine gewöhnlichen Kreise malt, setze ich mich dicht an ihn und versuche den Wachsstift frei, ganz frei über das Blatt zu bewegen. Ich kann es nicht - ich versuche es nur.
Momentan will er mich nicht bemerken - also ahmt er auch nicht nach. Dann sagt Marina: "Kirill, pass auf. Sieh mal, was wir machen!" Sie nimmt auch einen Stift und Papier und macht es wie ich. Sie denkt nicht daran dass sie in eine wahnsinnig komplizierte übung eingesprungen ist: "Freie Linie". Wenn sie eine Schülerin wäre, würde sie keinen Mut dafür haben. Jetzt hat sie ihn, weil sei uns beiden helfen will. So "kann eine schwache Persönlichkeit einmal stärker werden, als eine starke Persönlichkeit," sagt Morgenstern.

Nach dem zweiten Unterricht sagt mir Edik: "Es ist gut. Viel besser ist es so, wenn man immer neue Ideen gibt."
"Besser als was?"
"Als wenn man immer nur dasselbe hat."
Das ist es, was er sucht: Erneuerung des Lebens und des Wissens. Ein Erwachsener darf doch überhaupt nicht das berühren, was die Jugendlichen schon können. Wenn er es nicht wesentlich besser kann. Wesentlich!
Kirill ist bei unserer Mathematik dabei. Wir erfinden übungen auch für ihn, und plötzlich entdecken wir, dass er zählen kann. Bis 10! Er zeigt uns so viele Finger, wie es Löffel gibt. Edik ist erschüttert, ich erschrocken. Marina ist stolz: Das ist ihr Pflegekind. Nicht umsonst ist sie immer in Gefahr von ihm geschlagen zu werden. Dafür kann er zählen!

Edik bedauert, dass der im Herbst ausgesäte Knoblauch verfault ist: Der Boden war kaum gefroren. Etwas Positives findet er aber immer: Weil so warmes Wetter ist, kann er schon anfangen, ein Treibhaus zu bauen. Er ist sehr stolz, dass er im letzten Sommer das ganze Dorf mit eigenen Gurken versorgt hat, so dass keiner dafür Geld vergeuden musste.

Unsere Gespräche:

Edik: Heute erhöht sich der Luftdruck.
Boris: Warum weißt du das? Tut etwas weh?
E: Nein, aber insgesamt fühlt man sich frischer, arbeitsamer. Wenn er niedrig wird, werde ich faul. Ich habe es nachgeprüft: Micha hat ein Barometer. Vlad hatte auch eins, aber Lilka hat es kaputt gemacht. Sie dachte, es sei eine Uhr und hat was Falsches abgedreht.
B: Weißt du, wie einfach man Feuchtigkeit messen kann? (Ich erzähle, wie ein Hygrometer gemacht ist.)
E: Aha! Ich habe eins, ich wusste nur nicht, dass da ein Menschenhaar aufgehängt ist. Aber so dünn! Ich würde was Robusteres benutzen, ein Pferdehaar vielleicht.
B: Es ist nicht so empfindlich. ... Willst du einmal Chemie-Versuche sehen?
E: Was ist das? Chemische Stoffe?
B: Nein, Versuche, wo Stoffe verwandelt werden.
E: Ja, natürlich.
B: Ich kann in Waldorfschulen in Moskau für dich fragen, ob du eine Epoche mitmachen kannst.
E: Ich kann aber nicht weg. Nein. Ich ziehe gerade Pflanzen.
B: Es könnte jemand für dich machen.
E: Nein, das gebe ich nicht gern ab. Ein erster Paprikasame ist gerade gekeimt - am fünften Tag, wie es in den Büchern steht. Ich mache jeden Tag Messungen. ... Wenn man viel Licht gibt, wachsen die Pflanzen sehr langsam; wenn es wenig gibt -schießen sie ganz schnell hoch! Interessant. Warum weiß ich nicht.

Unsere Jugendlichen müssen lernen, lernen und lernen. Aber mit ihren Pflegern klappt es nicht. Und wie sollte es klappen, wenn es sogar mit einem Klassenlehrer nicht mehr klappt - in der Schule, wo Kinder nur einige Stunden verbringen, nicht Tag und Nacht. Weh uns...
Sie verstehen viel mehr, als sie gelernt haben, sie können viel mehr, als sie verstehen, sie schaffen viel mehr, als sie können.
Marina kann immer noch nicht behalten, wie viele Stunden zwischen 8 und 9 Uhr sind. Sie macht aber für uns drei Männer 4 Mahlzeiten pro Tag - einwandfrei, ohne Anweisungen und Zeitangaben. Bei dem Essen braucht man nicht zu sagen, dass man was braucht. Wenn ich an einer entfernten Ecke des Tisches die Butter oder ein Messer mit den Augen suche - merkt sie das. Noch interessanter ist, dass Edik das auch merkt. - "Wie merkst du das?" - frage ich ihn. - " Das ist doch klar!" - meint er mit seinem zarten Lächeln.

Aber alles schaffen sie nicht. Einmal kommt Edik zu spät zum Abendbrot - wir haben schon gegessen. "Kein Essen mehr da, alles alle," sagt Marina ruhig. äußerlich befriedigt trinkt Edik nur Tee mit uns und geht. Dann sage ich zu Marina: "Ich würde ihm an deiner Stelle wenigstens ein paar belegte Brote machen."
Marina: Er wird es nicht nehmen. (ruhig)
Boris: Doch, er bleibt doch hungrig.
M: Wahrscheinlich hat er Essen zu Hause.
B: Und wenn nicht?
M: Er wird es nicht nehmen. (sie meint, er sei zu stolz dafür).
B: Es kränkt aber nicht. Es kränkt, wenn wir ihn hungern lassen.
M: Ich hungere nie. Wenn ich nichts zu essen habe, macht es mir nichts.
B: Du. Aber er ist anders.
Nachdenkend macht sie Wegzehrung für Edik. Als sie fertig ist, kommt er unerwartet zurück. Wir essen mit ihm zusammen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Alle drei fühlen, dass die Welt wieder in Ordnung ist.

Edik sagt: Als ich in "Smetana" (ein anderes Heim) war, habe ich Vieles verstand.

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