Lubutka Rundbriefe

Januar 1996

Liebe Freunde,

zum Herbst des letzten Jahres hin ist es nun nach einem ereignisreichen Sommer wieder sehr still in Monino geworden. Alle großen und kleinen Helfer sind wieder nach Moskau, Holland und Deutschland zurückgekehrt - übrig sind die, die diesen Ort mit ihrem ganzen Dasein brauchen und die ihn mit ihrer ganzen Kraft tragen.

In den letzten Wochen ist noch fieberhaft an der Verbesserung und Erneuerung der Isolierungen für die neuen Häuser gearbeitet worden, so daß sie nun hoffentlich ein für allemal winterfest sind. Die Kartoffeln, die den wichtigsten Wintervorrat darstellen, konnten mit Hilfe eines Demeter-Bauern , der vielleicht bald ganz in Monino leben wird, eingebracht werden - aufgrund stark vergrößerter Anbaufläche in diesem Jahr erstmals in ausreichender Menge.

Monino ist standhafter geworden im vergangenen Jahr. Die Erfolge der Geduld, die das Projekt über Jahre hinweg getragen hat, sind nun deutlich sichtbar, auch wenn es finanziell weiterhin eine Gratwanderung ist. Wir sprachen hierüber mit Mascha und Lidia Sulimova, die im Herbst hier in Deutschland zu Gast waren. Sie berichteten, daß die 1000,- DM, die sie nun monatlich von der Lubutka-Hilfe erhalten, zwar eigentlich vorne und hinten nicht ausreichten, daß dieses Geld jedoch trotzdem eine sehr wichtige Hilfe sei, besonders wegen seiner Regelmäßigkeit und Verläßlichkeit. Sie baten uns, unsere Anstrengungen weniger darauf zu verwenden, den Betrag zu erhöhen (wenngleich auch das nötig wäre), als vielmehr darauf, ihn weiterhin aufrechtzuerhalten. Und daß das bis heute möglich war und hoffentlich auch weiterhin möglich sein wird, dafür sind sind wir allen Spendern immer wieder sehr dankbar! In diesem Sinne bitten wir alle diejenigen unter Ihnen, die einen einmaligen Betrag gespendet haben, um Verständnis dafür, daß wir auch diese Spenden nicht auf einmal nach Lubutka geben, sondern sie in den regelmäßigen Betrag einfließen lassen. Und wenn für manche Spender nun bald die Frist abläuft, für die sie finanzielle Verantwortung übernommen haben, so bitten wir Sie herzlich, zu bedenken, ob für Sie eine Fortführung der Unterstützung möglich wäre.

Eines sei an dieser Stelle noch bemerkt: Wir dürfen nicht übersehen, daß im Verlaufe der Inflation in Rußland auch die westlichen Währungen sehr stark an Kaufkraft verloren haben und daß die Preise z.B. für Lebensmittel bereits das Niveau der Preise hierzulande erreicht oder sogar überschritten haben (ein Liter Milch kostet dort ca. 1,60 DM, ein Kilo Käse zwischen 15,- und 20,- DM). Damit sind auch die Zeiten vorbei, in denen wir dort mit vergleichsweise geringen Summen an Dollar oder D- Mark noch wirklich große Sprünge machen konnten.

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Monino im Sommer 1995

Wenn jetzt in der kalten Jahreszeit die Strichvögel in der Landschaft auftauchen, ist zu beobachten, wie sie den ganzen Tag ein wenig Futter suchend umherfliegen und wie nebenher an jedem Ort, wo sie sich niederlassen, einen Vers von ihrem Lied singen. So leben sie sich in die neuen Verhältnisse ein, bis ein Wetterumschwung oder etwas anderes sie von diesem Platz vertreibt.

Wenn wir Menschen in jedem Sommer vom Reisefieber ergriffen werden, dann kommen wir auch an Plätze, in Landschaften, die wir mindestens ein Jahr lang nicht mehr gesehen haben. Durch welche Art des Verhaltens schaffen wir es denn, an das dortige Leben anzuknüpfen?

Nun hatte sich über das Jahr im Dorf Monino eine Menge verändert. Es waren viele neue Gesichter hinzugekommen. Die neuesten wohnten schon drei Monate da und waren schon ein gutes Stück Einheimische geworden. Sie fühlten sich zumindest als Hiesige, auch wenn es in der Vernunft und im täglichen Zupacken bei der Arbeit noch nicht zu sehen war. Jedoch bei Lis, Nelka und Oksana, die schon zwei Jahre da waren, schauten wir nicht nur einmal erstaunt: wie z.B. Lis leckeres Essen zauberte, Nelka sich um das Feuer kümmerte und Oksana die Kunst des Matrioschka-Malens erlernte. Ohne jetzt alle Namen zu nennen, trafen wir Anfang Juli als die ersten Gäste aus Deutschland eine Gemeinde an, die der Winter, das damit verbundene harte Leben und die Freude, die mit dem Frühling kam, zusammengeschmiedet hatte. Arbeit hatte es täglich gegeben, vieles konnte man im Sommer davon nicht mehr sehen, manches war jedoch auch dauerhaft: Grinja unterhielt in einem Haus eine Werkstatt, wo er mit Hobel und Säge Möbel baute - so fein, daß wir sie auch in Deutschland "gelten lassen würden". Man konnte in jedem Haus neue Möbel finden, zu denen über den Sommer noch einige hinzukommen sollten. Soweit zu dem vergangenen.

Wir kamen zu dritt und in Monino waren zu dieser Zeit insgesamt nicht mehr als 25; wir aßen zusammen im Wohnzimmer des alten Monino - Hauses. Aber schon die Tage danach kamen fast täglich Menschen an; zuerst wurde die Stube knapp. Mit zwei neuen Tischen wurde die neue "Stolowaja" eingeweiht, bis dann schließlich fünf zu einer Tafel zusammengestellte Tische gar zu knapp wurden. Dann war der Höhepunkt des Sommers erreicht und es waren über 60 Leute da. Während dieser Zeit war zu beobachten, wie die Jugendlichen sich in ihren Verhaltensarten änderten, weil sie sich nicht mehr von der Gemeinschaft wahrgenommen fühlten. Sie gingen immer mehr in ein eigenes Leben über. Eine Folge davon war, daß sie sich nur noch unter Druck in das allgemeine Arbeitsleben eingliederten. So machten sie ausgedehnte "Prasdniki"(Feste) bis tief in die Nacht hinein. Das Arbeiten als gemeinsame Tätigkeit war gestört.

Die Vögel tun es aus ihrer angeborenen Fähigkeit heraus - tätig sein und das Gegebene aufnehmen wenn sie auf Reisen sind. Wir Menschen müssen auf unseren Reisen beständig daran üben, nicht mehr Schaden anzurichten als wir wirklich Gutes tun.

Ulf Liebmann

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Nelka

Nelka kam zusammen mit Lilka und Lis im Sommer 1993 aus dem Waisenheim Burashevo nach Monino. Sie gehört mit nun 20 Jahren zu den ältesten "Kindern" in Monino.

Nelka ist die jüngste Tochter einer kinderreichen Zigeunerfamilie und wurde mit fünf Jahren unter dem Vorwand, man könne sie nicht mehr ernähren, nach Burashevo gebracht. So wuchs Nelka, obwohl nicht wirklich ein Waisenkind, im Waisenheim auf. Einige Jahre später versuchte ihre Mutter, sie wieder aus Burashevo zurückzuholen. Nelka jedoch weigerte sich, sie wollte mit dieser Frau, die sie als Kind verstoßen hatte, nichts mehr zu tun haben.

Als Nelka 1993 zusammen mit Lis und Oksana nach Monino kam, fiel sie von Anfang an durch ihre verschlossene, rauhe und in gewisser Weise auch wiederum schüchterne Art auf. Sie sprach mit kaum jemandem, aus ihren dunklen, rätselhaften Zügen sprach Ablehnung, vermischt mit einem gewissen Stolz.

Nelka hatte es schwer, sich in Monino einzuleben. Gegen jede Art von Bevormundung sträubte sie sich, grundsätzlich empfand sie jede ihr auferlegte Aufgabe als Einschränkung, was sie nach außen durch teilweise heftiges Fluchen kundtat. überhaupt war ihre Sprache sehr geprägt vom groben Umgangston des Waisenheimes, wogegen anfangs nur schwer anzukommen war.

Im Herbst 1994 gipfelte Nelkas Auflehnung darin, daß sie aus Monino auszog und sich an der Lubutka ein Zelt aufbaute, in dem sie fortan wohnte. Sie kam zunächst nicht mehr zum Arbeiten hinauf nach Monino und schließlich auch nicht mehr zum Essen. Bis in die ersten kalten Novembertage hinein hielt sie es dort aus und kam dann, auf Bitten von Mascha und Aljona, nach Monino zurück - als völlig veränderter Mensch. "Nelka hat uns die größten Schwierigkeiten gemacht, uns die größten Rätsel aufgegeben und uns die größten überraschungen bereitet. Sie ist eben eine nastajaschaja Ziganka, eine echte Zigeunerin!" So kommentierte Aljona dieses Verhalten.

Als hätte Nelka in der Zeit ihres "Einsiedlerdaseins" Initiation durchgemacht, wirkt sie seitdem verwandelt. Im Frühjahr 1995 ließ sie sich taufen und verbindet sich seitdem zusehends mit Monino. Es schwang schon ein deutlicher Stolz mit, wenn sie im vergangenen Sommer von unserem Monino sprach. Viel offener trat sie uns entgegen, interessiert, in gewisser Weise direkt neugierig.

Eine besondere Beziehung hat Nelka zum Feuer. Als wir in diesem Jahr eine neue Feuerstelle bauten und den ersten großen Holzstoß errichteten, war sie mit viel Begeisterung und Interesse dabei. Vor den aufzüngelnden Flammen setzte sie sich ins Gras und schien wie gebannt von diesem Element. Ihr sonst so verschlossenes Gesicht begann sich aufzuhellen und zu strahlen. Nelkas Entschluß, die Pflege der Feuerstelle zu übernehmen, ließ sie als eine ganz andere, reife und verantwortungsbewußte Person erscheinen, die mit Entschiedenheit ihren Weg antritt...

Florian Rothacker

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