Lubutka Rundbriefe

August 1995

Liebe Freunde und Unterstützer von Lubutka!

Zunächst möchten wir Ihnen noch einmal sehr herzlich für Ihre zahlreiche Hilfe danken. Wir können nun, sobald die dafür benötigten Unterlagen für das Finanzamt aus Rußland vorliegen, den monatlichen Betrag für Lubutka von 500.- auf 1000.- DM erhöhen, und das ist für die Menschen dort eine sehr große Erleichterung.

Eine weitere Erleichterung war der Elektro - Weidezaun, der aus dem von Ihnen gespendeten Geld angeschafft wurde; und die schönste Erleichterung wird sein, wenn nun endlich eine bisher unbezahlbar teure Verbesserung der Wasserversorgung vorgenommen werden kann.

Monino liegt auf einem Hügel, und die bisherige Wasserquelle ist etwa 200 m von den Häusern entfernt, bei einem Höhenunterschied von 15 m. Lange Zeit mußte von dort das Wasser in Fässern mit Handwagen geholt werden. Seit zwei Jahren gibt es nun eine Elektropumpe mit Gartenschlauch, die allerdings auch nur im Sommer funktioniert. Im Winter wird dann das Wasser mit Pferdeschlitten geholt. Da die Quelle an einem sehr tiefgelegenen Ort ist, haben wir im Frühjahr bei der Schneeschmelze das Problem, daß sie sehr stark durch eindringendes Schmelzwasser verschmutzt. Darmkrankheiten sind fast immer eine Begleiterscheinung des Frühjahrs in Monino.

Alle Versuche, einen Brunnen zu graben, scheiterten bisher, und die alten Bewohner der Nachbar-orte sagen auch, daß es in Monino auf dem Hügel noch nie einen Brunnen gegeben habe. Es bleibt also nur, auf die Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen, ein geologisches Gutachten erstellen zu lassen und dann maschinell tief zu bohren.

Da hierfür etwa 2000 - 3000 $ nötig sind, schien das bisher unmöglich. Doch jetzt rückt ein solches Projekt in greifbare Nähe. Und dies ist ja eigentlich die Grundbedingung für ein angemessenes menschliches Leben und Arbeiten.

In Monino ist jetzt Heuernte. An diesem wichtigen Ereignis sind sicher fast alle Anwesenden beteiligt. Außerdem sind für diesen Sommer die Abdichtung der neuen Häuser und Ausbau eines Schulgebäudes im benachbarten Spiridovo geplant. Dort sollen eine Holzwerkstatt und ein Unter-richtsraum entstehen. Dies mag als vorläufiges grobes Bild dieses Sommers genügen. Wenn die diesjährigen Rußlandreisenden zurückkehren, werden wir einen Rundbrief mit ausführlicheren Berichten über die Entwicklungen und Begebenheiten in Monino verschicken.

Bis dahin wünschen wir Ihnen noch einen wunderbaren Spätsommer!

Florian Leiber

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Die Betreuten in Monino

Ich schreibe über Kirjuscha:

Er wohnt von allen Jugendlichen am längsten in Monino, seit August 1991. Er kam mit elf Jahren zu uns und war damals ein ruhiger, braver aber völlig kontaktscheuer Autist. Er war taubstumm und er konnte keine Gesten verstehen außer "komm her, steh auf, setz dich, nimm dies...". Seine Augen schielten und waren unterschiedlich stark kurzsichtig. Seine Großmutter, bei der er aufgewachsen war und die ihn schließlich zu uns brachte, erzählte jedoch, daß seine Augen schon viel besser seien als in der frühen Kindheit. Sein Blick fixierte niemals Menschen; das wesentlichste Objekt seiner Aufmerksamkeit waren seine Hände: alle fünf Finger weit auseinandergespreizt, hält er sich auch heute noch die Hand dicht vor die Augen und betrachtet fasziniert die Finger (oder die Zwischenräume?).

Er hatte übergewicht, und seine Muskeln waren völlig kraftlos; seine Haut war zart wie bei einem Neugeborenen. Er konnte nicht rennen, und auch eine Pfütze oder einen großen Stein zu überschreiten fiel ihm sehr schwer. Außerdem hatte er panische Angst vor Dunkelheit, kaltem Wasser und noch einigen anderen Dingen, die wir nicht immer herausbekommen konnten.

Seine Großmutter gab uns für ihn eine Schachtel mit Tranquilizern und Psychopharmaka, die ihm unbedingt dreimal am Tag gegeben werden sollten. Sie glaubte fest daran, daß es umso besser wäre, je mehr Tabletten Kirjuscha schlucke.

Als er zu uns kam, hatte er bereits gelernt, sich selbständig anzuziehen und auf die Toilette zu gehen. Er war allerdings auch in diesen Dingen nicht sehr genau. Das Essen war ihm sehr wichtig, ansonsten war er den meisten Dingen gegenüber gleichgültig: weder Hitze und Kälte, noch bekannte oder unbekannte Menschen, noch Veränderungen seiner Lebensumstände berührten ihn sichtbar. Ab und zu hatte er aggressive Ausbrüche. Die größte Schwierigkeit bei seiner Erziehung wurde jedoch das fehlende Interesse an seiner Umwelt.

Die Erziehung von Kirjuscha übernahm zum größten Teil Mascha. Sie verrichtete mit ihm zusammen die einfachen ländlichen Arbeiten, malte und plastizierte, machte Geschicklichkeitsübungen und unternahm lange Wanderungen mit ihm. Es zeigte sich, daß Kirjuscha sehr vieles lernen konnte,. und daß das, was ihm am meisten fehlte, der Wille war. Nach einiger Zeit begann Mascha von den chemischen Medikamenten immer weniger zu geben. Daraus entstand eine lange Auseinandersetzung mit der Großmutter, die äußerst unzufrieden mit diesem neuen Vorgehen war. Es gab dann sogar eine Zeit, in der er in Monino überhaupt keine Medikamente mehr bekam, aber bei allen Besuchen bei der Großmutter in Moskau dafür umso mehr. Mascha ging mit Kirjuscha zu einem anthroposophischen Arzt, der gewisse Medikamente verordnete; zig Psychiater und Neuropathologen, die die Großmutter aufsuchte, verordneten natürlich ganz Anderes. Die Großmutter fand, daß der Junge in einem fürchterlichen Zustand wäre, mager geworden sei, ins Bett nässe usw. Sie führte die alten Zustände wieder ein und fütterte ihn wie eine Weihnachtsgans. Dennoch hatten wir den Eindruck, daß seine Entwicklung sich zum Besseren gewendet hatte, seit wir ihm weniger Medikamente gaben.

Kirjuscha wuchs schnell und seine Wangen und die Bauchmuskeln strafften sich. Er lernte rennen und begann zu reiten (während einer das Pferd führte und einer ihn hielt). Ins Bett näßte er offensichtlich, weil er abends fürchtete, auf die kalte dunkle Toilette zu gehen. Im Sommer löste sich dieses Problem.

Nun ist er 15 Jahre alt. Er ist recht einfach durch die Pubertät gekommen, und doch ist für uns nun die Frage entstanden, wie wir hier mit dem Geschlechtsleben von Schwerstbehinderten umzugehen haben. Kirjuschas Beziehungen zu seiner Umwelt haben sich sehr verbessert. Es ist, als wäre er aufgewacht und habe das erstemal um sich geschaut. Er sucht nach Möglichkeiten, um seine Kräfte zu messen, schleppt Feuerholz und Steine, deckt den Tisch usw. Er achtet dabei sehr genau darauf, daß auf unseren beiden Tischen von allem genau gleichviel ist, hebt jedes Papier auf, das zufällig neben den Mülleimer gefallen ist und kontrolliert zehnmal am Tag, ob auch genug Feuerholz zum Trocknen auf dem Ofen liegt. Oft setzt er sich auch von sich aus hin und malt.

Seine Großmutter läßt ihn während seiner traditionellen Besuche in Moskau nun nicht mehr allopathisch, sondern mit Massagen und Akupunktur behandeln. Sie hat beschlossen, das Sorgerecht für Kyrill auf Mascha zu übertragen, die freilich schon lange alle entsprechenden Pflichten für ihn erfüllt.

Aljona Armand

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